Wer steckt hinter dieser neuen Rubrik und was möchte sie für einen Mehrwert bieten?
Portraits über Menschen im gemeinnützigen Bereich findet man auch an anderer Stelle. Wir erinnern uns zum Beispiel an die „Köpfe“ in der Stiftungsbeilage der Wochenzeitung DIE ZEIT. Mit dieser Rubrik „Mensch des Monats“ möchten wir Menschen hinter einer Führungsposition besser kennenlernen. Dafür hat Dr. Anna Punke-Dresen diese Rubrik ins Leben gerufen.
Anna Punke-Dresen ist selbst seit über 15 Jahren in diversen Funktionen und Kontexten sowohl ehrenamtlich als auch hauptamtlich im gemeinnützigen Sektor unterwegs - unter anderem als stellvertretende Leiterin des Kreises Junge Menschen und Stiftungen, Community Lead für MentorMe, Vorständin von Hamburger mit Herz e.V. und aktuell als Leitung Fundraising der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch.
Schreiben und gemeinnütziges Engagement sind die beiden Pfeiler, die ihren Werdegang prägen.
Mit dieser monatlichen Rubrik möchte sie einige spannende Personen aus ihrem Netzwerk in persönlichen Gesprächen fragen, wie und warum sie sich selbst im gemeinnützigen Bereich engagieren. Welche Ehrenämter werden zusätzlich zum Hauptamt gepflegt? Was treibt sie dazu an? Was bedeutet Engagement für sie und welche Learnings und Botschaften bringt das für sie mit?
Nikolas Migut ist Gründer des Vereins StrassenBLUES e.V. in Hamburg. Migut erreicht und aktiviert als „Social Impact Storyteller“ mit seinen medialen Aktionen die Menschen. Das Vereinsziel: Kreative Wege aus der Armut finden, praktisch umsetzen und so Obdachlosigkeit in den kommenden zwei Jahrzehnten in Hamburg abschaffen!
Lieber Nikolas, ich möchte in dieser Rubrik jedem*r Interviewpartner*in die gleiche Einstiegsfrage stellen: Wann und wo hast Du Dich zum allerersten Mal ehrenamtlich engagiert? Wie kamst Du dazu und was war Deine Motivation dahinter?
Interessanterweise hat mich der Sport, mein frühes Interesse an Journalismus und mein Papa zum ersten Ehrenamt gebracht. Nachdem ich mit sieben Jahren angefangen hatte, mit meiner Familie - Bruder, Schwester, Vater - Judo im Verein zu machen, bin ich zehn Jahre später aus dem aktiven Sport ausgestiegen. Damals war mein Papa bereits im Württembergischen Judo-Verband engagiert und dort suchten sie jemanden, der für die Verbandszeitschrift fotografieren und schreiben wollte. Es waren spannende Begegnungen, Wettkämpfe und Porträts, die ich so mehrere Jahre einfangen konnte und ich produzierte dafür regelmäßig ein eigenes Heft für alle Interessierten Judo-Enthusiast*innen. Das war damals ein leidenschaftlicher und gleichzeitig verantwortungsvoller Einstieg ins Ehrenamt und meiner späteren beruflichen Passion.
Du hast 2016 den gemeinnützigen Verein StrassenBLUES gegründet und erzählst auf eurer Webseite mit bewegenden Worten, dass Dich die eigene Begegnung mit einem Obdachlosen dazu bewegt hat. Was war damals Deine Vision und wie steht der Verein 2023 da?
Durch meine Filme für den Norddeutschen Rundfunk, bei dem ich auch 2009 mein Redaktionsvolontariat gemacht habe, kam ich gleich zu Anfang in Berührung mit Armut in Hamburg und Norddeutschland. Zunächst filmte ich als Videojournalist Menschen im Alter um die 80 Jahre, die trotz jahrzehntelanger Arbeit noch arbeiten mussten, um über die Runden zu kommen. 2012 realisierte ich dann gemeinsam mit einem Kollegen in der Berliner Bahnhofsmission einen Film über obdachlose Menschen. Wir blieben dort sieben Tage und Nächte vor Ort. Eines nachts tauchte Alex auf, der damals über acht Jahre auf der Straße gelebt hat. Ich begleitete ihn die ganze Nacht bis zum Morgengrauen durch Berlin. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis ich ihn - dann gemeinsam mit meiner Frau Milena - wiederfand. Inzwischen lebte er in Neumünster (Schleswig-Holstein) in einer Sozialwohnung. Als wir ihn im Januar 2015 dort besuchten, war ich sehr überrascht von seinem kleinen Zuhause: die ganzen Wände waren tapeziert mit Gedichten und Kurzgeschichten. Alex hatte durch unser Telefonat vorab erfahren, dass ich inzwischen eine Tochter habe. Für sie schrieb er auch ein Gedicht und trug es mir vor. Er wollte, dass ich all das mit meiner Kamera filme und wir führten in seiner neuen Wohnung ein längeres Interview zu seiner Zeit damals und heute. Dabei hatte er den großen Wunsch, seine Gedichte einmal zu veröffentlichen. Das war damals mit die Motivation, StrassenBLUES e.V. zu gründen. Es dauerte noch einmal drei Jahre, bis wir das nötige Geld zusammen hatten. Zudem machte ich Bekanntschaft mit einer Frau, die in den Jahren ihrer damaligen Obdachlosigkeit fotografierte. Aus diesen Bildern und den Gedichten von Alex entstand unser StrassenBUCH, das auf dem „N Klub“ (Nachhaltigkeitsklub) im Dezember 2018 vor 170 Menschen in Hamburg Buch-Premiere feiern durfte. Alex sprach über seine Motivation, Gedichte zu schreiben und durfte sein eigenes Buch interessierten Menschen vor Ort signieren. Das war eine absolute Wertschätzung seiner Person - und dieses Gefühl hält bis heute bei ihm an. Wir telefonieren regelmäßig und besuchen uns auch ab und an in Hamburg beziehungsweise an seinem neuen Wohnort.
Heute haben wir in unserem Verein mehrere Festangestellte, über 30 Ehrenamtliche. Dabei habe ich die Vision, noch in meiner Lebenszeit Obdachlosigkeit in Hamburg abzuschaffen.
Euer Slogan ist „Wir zeigen kreative Wege aus der Armut.“ Was bedeutet das und was braucht es dafür?
Viele in der Wohnungslosenhilfe sprechen seit Jahren davon, dass es einen sogenannten „Paradigmenwechsel“ brauche. Meines Erachtens sollten wir nicht nur die klassischen Wege gehen. Daher braucht es kreative Ansätze, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Ein Baustein davon kann „Housing First“ sein, durch den man obdachlosen Menschen zunächst eine Mietwohnung ermöglicht und sich dann um alle anderen Dinge kümmert. Aber dies allein ist für mich noch keine Garantie, um obdachlosen Menschen langfristig zu helfen. Daher verfolgen wir unsere drei Säulen „Wohnen“, „Arbeiten“ und „Begegnen“. Wir starten nun im Mai ein vom Deutschen Hilfswerk über drei Jahre gefördertes Projekt und werden insgesamt 20 obdachlose Menschen, die bisher keine Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II (Bürgergeld) beziehen, in Mietwohnungen unterbringen und versuchen gemeinsam Perspektiven zu schaffen. Dies kann zum Beispiel Erwerbsarbeit sein, die wir gemeinsam suchen bzw. sogar mit unserem Projekt “Working for Impact” selbst anbieten. Durch diese sinnvolle Arbeit möchten wir obdachlose und armutsbetroffene Menschen in Sozialunternehmen vermitteln, die durch verantwortungsvolle Unternehmen finanziert werden. Zudem schaffen wir auf unseren Events immer wieder Raum für Begegnungen auf Augenhöhe von Menschen mit und ohne Obdach. Unserer Meinung nach können diese drei Angebote ein guter Weg sein, um es langfristig aus der Armut heraus zu schaffen. Zudem sind wir aktuell mit Partnern und Partnerinnen dabei, Künstliche Intelligenz mit in unsere „kreative Armutsbekämpfung“ einzubeziehen.
Was bedeuten in diesem Kontext Kooperationen und Fundraising für Dich?
Da wir bisher ein rein spendenfinanzierter Verein sind, der auch keine Unterstützung von der „öffentlichen Hand“ erhält, sind wir auf Spenden von Bürgerinnen und Bürgern, Stiftungen und Unternehmen angewiesen. Durch diese Unabhängigkeit können wir diese kreativen Wege gehen und Projekte anschieben, die in anderen Organisationen nicht so einfach möglich sind. Dabei kooperieren wir immer wieder mit NGOs in Hamburg und darüber hinaus. Wir teilen auch immer gerne unser Wissen aus unseren erfolgreichen Projekten. Beispielsweise gibt es eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit Karuna eG in Berlin. Zudem haben wir durch unsere kreativen Projekte bereits eine Vielzahl anderer Organisationen inspiriert, wie z.B. Timmy toHelp e.V. (Leipzig), Helping Hands Cologne e.V. (Köln), 1892hilft (Berlin) mit „Hotels for Homeless“, die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. mit unserer StrassenWAHL sowie das Asphalt-Magazin (Hannover), das unseren StrassenGEBURTSTAG übernimmt. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nur gemeinsam als gemeinnützige Organisationen - in Kombination mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft - Obdachlosigkeit in Deutschland langfristig abschaffen werden.
Welche Netzwerke bereichern Dich bis heute?
Es ist faszinierend, was durch den „N Klub“ mit Initiator Lars Meier alles für StrassenBLUES in den vergangenen Jahren entstehen konnte. Noch vor unserer Gründung im Jahr 2015 wurde ich auf das Netzwerk-Event eingeladen, um in 100 Sekunden meine Idee vorzustellen. Seitdem treffe ich dort regelmäßig unglaublich inspirierende Persönlichkeiten, mit denen wir - nicht nur in der Wohnungslosenhilfe - einiges für Hamburg bereits ermöglicht haben und sicherlich noch vieles bewegen werden.
Was ziehst Du aus Deiner täglichen Arbeit und worauf könntest Du gerne verzichten?
Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich nach sechs Jahren Ehrenamt nun seit Juli 2021 StrassenBLUES e.V. im Hauptamt Vollzeit machen darf. Gemeinsam in unserem Team bringen wir sinnvolle, wirkungsvolle und kreative Projekte direkt für die obdachlosen Menschen voran. Es ist auch so toll, dass ich Soziales mit meiner kreativen Leidenschaft für konstruktives Storytelling verbinden kann. Allerdings ist es auch sehr herausfordernd für mich, gefühlt ein gutes Dutzend Berufe gleichzeitig auszuüben. Daher möchte ich meine Zeit so sinnvoll wie möglich nutzen und bin überhaupt kein Fan von Verwaltungsaufgaben, die ich daher - soweit es möglich ist - digitalisiere und automatisiere.
Was würdest Du anderen Philanthropen raten, die sich auch engagieren oder eine eigene NGO gründen möchten?
Sucht euch unbedingt einen Bereich aus, in dem ihr euch vorstellen könnt, mindestens zehn Jahre eure Zeit, Energie und Herz hineinzugeben. Ihr müsst nicht zwingend von dem Problem betroffen sein, aber ihr solltet leidenschaftlich Lösungen in diesem Feld anstreben wollen. Superwichtig ist ein gutes Team - Mitstreiterinnen und Mitstreiter - denn sonst geht euch sehr schnell die Puste aus. Ich habe das Glück, dass ich meine Frau Milena im Verein an meiner Seite habe, die eine kluge Ratgeberin in entscheidenden Fragen ist. Es ist übrigens auch sehr bereichernd, in unserer vierköpfigen Familie über Werte, Demut und Mitmenschlichkeit zu sprechen und zu sehen, dass meine nun fast neunjährige Tochter dies versteht und in ihrem eigenen Alltag weiter trägt.
Und zum Schluss: 3 Antworten in einem Satz!
Welchen Film hast Du bzgl. Ehrenamt/ Engagement oder auch in den Feldern, in denen Du Dich engagierst, gesehen, der Dich nachhaltig beeindruckt hat?
„Drifter: Die neuen Kinder vom Bahnhof Zoo“ - ein Dokumentarfilm von Sebastian Heidinger von 2008 über den Alltag dreier obdachloser Jugendliche in Berlin.
Wenn Du einen Wunsch für den gemeinnützigen Sektor frei hättest, welcher wäre das?
Mehr Mut zur Veränderung - gerade auch bei den politisch Verantwortlichen.
Was möchtest Du unseren Leser*innen mit auf den Weg geben? Was ist Dein Credo?
Auf unseren schwarzen StrassenBLUES-Kapuzenpullis steht mit weißer Schrift: „Machen ist wie Wollen, nur krasser“ - fangt einfach mal an.
Nikolas Migut
Gründer
StrassenBlues e.V.
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